A. Kley: Geschichte des öffentlichen Rechts

Cover
Titel
Geschichte des öffentlichen Rechts in der Schweiz.


Autor(en)
Kley, Andreas
Erschienen
Zürich 2011: Dike
Anzahl Seiten
550 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Die historische Dimension geniesst in nichthistorischen Nachbardisziplinen der Geschichte ein erfreuliches und, man ist zu sagen geneigt, vielleicht sogar ein verstärktes Interesse. Daraus erwachsen der Geschichtswissenschaft willkommene Beiträge, etwa aus der Soziologie von René Lévy zur schweizerischen Sozialstruktur (vgl. SZG 2009, S. 467) oder, noch zu wenig beachtet, aus der Politologie von Wolf Linder, Christian Bolliger, Yvan Rielle ein hoch nützliches Standardwerk zu den Eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007.

Jetzt liegt von Andreas Kley, dem Nachfolger von Alfred Kölz an der Universität Zürich, eine aus vielen aufschlussreichen Detailinformationen zusammengestellte Geschichte des öffentlichen Rechts in der Schweiz vor. Was mit diesem schlichten Titel daher kommt, ist eine sehr komplexe Geschichte mit teils getrennten laufenden, teils verwobenen Strängen der Ideengeschichte, des grundsätzliches Rechtsverständnisses (mit dem ewigen Spannungsverhältnis zwischen Naturrecht und positivem Recht) und der konkreten Rechtsetzung bzw. Gesetzgebung sowie der parallel dazu sich entwickelnden Rechtswissenschaft und der Universitätsorganisation (etwa die fakultären Einordnungen, der zunehmenden Spezialisierung der Lehrbereiche oder der Universitätsgründungen im Falle Fribourgs/1889 und St. Gallens/1899) und schliesslich der Entwicklung des Berufsfeldes (der Bedarf an Gerichten und in der Verwaltung, das Wirken von «Kronjuristen»). Biografische Angaben zeigen, wie die Laufbahnen in einer Mischung aus vorgegebenen Mustern und individuellen Entscheiden verlaufen. Da kann man beispielsweise feststellen, dass ein Carl Vogt 1878–86 Chefredaktor der NZZ und zugleich Ordinarius mit allerdings reduziertem Pensum sein konnte. Ohne Berührungsscheu werden die frontistischen Frühphasen eines Hans Huber und Werner Kägi ausgebreitet, letzterer schwärmte in den 1930er Jahren von der «zentralen Wesenheit» des Volkes und hielt die Gewaltenteilung für überholt (S. 155ff. u. 174ff.).

Die Präsentation folgt verschiedenen Ordnungsprinzipien. Es gibt drei grosse Epochenkapitel: bis 1914, 1914–1960 und nach 1960. Nicht überraschend bildet im mittleren Kapitel 1945 eine leichte Zäsur. Dann gibt es je ein Kapitel zu den seit 1963 regelmässig durchgeführten Tagungen der schweizerischen Staatsund Verwaltungsrechtslehrer und zu den Theorien und Methoden der Wissenschaft vom öffentlichen Recht (insbesondere zur der um 1960 anlaufenden Totalrevision der Bundesverfassung, aber auch zur Weiterentwicklung des Sozialstaats, zum zunächst unterschätzten Menschenrechtsabkommen u.a.m.). Ein über 70 Seiten umfassender Anhang mit rund 200 Kurzbiografien und Biobibliografien zu den einschlägigen Gelehrten des öffentlichen Rechts (wovon 5 Frauen) beschliesst den Band.

Das chronologische Prinzip liess sich aber nicht streng durchhalten. Immer wieder finden sich wichtige Ausblicke auf spätere Vorgänge, im Kapitel «vor 1914» beispielsweise Exkurse zur Bedeutung der Konfessionszugehörigkeit in den 1970er Jahren (S. 77). Ein besonderes Augenmerk richtet der Verfasser auf die wechselseitigen Beurteilungen durch Kollegen und Rezensionen zu einzelnen Publikationen. Als wichtigster roter Faden zieht sich die Frage nach dem Verhältnis von Rechtswissenschaft und Politik durch. Ein anderer roter Faden wäre das Verhältnis zum Staat beziehungsweise die Einstellung zur Staatsquote. Die meisten Rechtsgelehrten dürften sich als nur oder in erster Linie dem Recht verpflichtet verstanden haben. Wie aber engagierten sie sich in den Disputen, die man als grosse Auseinandersetzungen zwischen Rechts und Links einordnen kann? Einigermassen signifikant dürfte sein, dass um 1900 in den Debatten zum Proporzwahlrecht die Position der Freisinnigen auch von angesehenen Professoren mitgetragen wurde und die katholisch-konservativen und sozialdemokratischen Kontrahenten über keinen akademischen Support verfügten. Aufschlussreich sind auch die Abschnitte «Spuren der 1968er-Bewegung in der Staatsrechtslehre » (S. 284ff.) und zu Richard Bäumlin (S. 300ff.).

Kley widmet der Entwicklung des völkerrechtlichen Verständnisses wiederholt eigene Abschnitte. Er zeigt, dass die Stellung der Schweiz in Europa ein «altes und stets diskutiertes Problem» darstellt. Dieses Problem ergab sich zum einen aus dem auch und gerade von Rechtsexperten mitgetragenen Verständnis der Schweiz als Sonderfall. Ein Carl Hilty musste sich um 1893 von seinem Wiener Kollegen Edmund Bernatzik vorwerfen lassen, die Schweiz wie mit einer Chinesischen Mauer von Europa abschliessen zu wollen (S. 45, 335, 456). Bis Mitte der 1970er Jahre konzentrierte sich die Rechtslehre «nach innen» und dominierte ein «ausgeprägtes» Reduit-Denken (S. 321), danach öffnete sich das Verständnis vermehrt für die internationalen Zusammenhänge. In den Jahren nach 1989 kam es in der Staatsrechtslehre offenbar zu einer weiteren Ablösung des anfänglich dominanten nationalkonservativen Denkens (S. 457).

Dem Historiker fällt auf, wie sehr sich auch dieses Werk auf die Auswertung der Sekundärliteratur des eigenen Fachs beschränkt, etwa betreffend der Einführung des Referendums, der Initiative und des Proporzwahlrechts, aber auch bestimmter Zeitumstände wie diejenigen um 1891, 1918 oder der 1930er Jahre. Historiker müssen sich aber fragen, ob sie sich nicht gleich verhalten. In der Einarbeitung der für die Geschichtswissenschaft gewinnbringenden Befunde dieses Werkes haben sie Gelegenheit, ihre eigenen Defizite abzubauen.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Andreas Kley: Geschichte des öffentlichen Rechts in der Schweiz. Zürich/St. Gallen, Dike, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 355-356

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 2, 2012, S. 355-356

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit